Über Schumpeter-Forschung und über Schumpeter-Tratsch
Nun versichert uns Michael Jäger in „Wanderers Verstummen ...“ überdies, dass sich Johann Wolfgang selbst in der Hütte von Philemon und Baucis sah, die er Faustens Entwicklungshelfer in der vom Türmer beklagten Szene niederbrennen ließ. Was Innovationen betrifft, geht es wenigstens in Europa dermaßen furios nicht zu. Zudem tut der Betrachter gut daran, die Szene nicht mit einer Analyse zu verwechseln. Hätte man es dabei doch auch mit all der Not zu tun, die erst Faustens Landgewinnung wendet. Ob nun „der Weisheit letzter Schluss“ oder nicht – Goethe hat uns in seinem Spätwerk mit der epochalen Frage konfrontiert: Wie halten wir es mit der Entwicklung?
Denn seit Schumpeter wissen wir ausdrücklich: Nicht Wachstum, sondern Entwicklung ist der Schlüsselvorgang der Moderne und sie ist zumeist ein durchaus widersprüchliches Geschehen: Entwicklungen eröffnen und verschließen Horizonte. Aus unterschiedlichsten Perspektiven erfahren wir: Entwicklungen führen zu neuen Chancen wie Berufen, vermögen jedoch auch Menschengruppen, Landstriche oder gar Länder zu deklassieren. Wirtschaftlich wie politisch ziehen sie im Wechsel von Konjunktur und Krise ihre Bahn. Es sind daher nicht so sehr traditionelle Klassenlagen, sondern es sind die sozialen und ökologischen Entwicklungswidersprüche, die unsere Problemlagen bestimmen und deren Beherrschung uns herausfordert. Jüngere soziale Bewegungen, die sich in überraschenden Volksentscheiden und Wahlsiegen geltend machen, sprechen diesbezüglich Bände.
Mit seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung und seinen Forschungen zu den Krisen, der politischen Dynamik und der Stabilität sozialer Formationen hat Josef Alois Schumpeter das jüngere sozialwissenschaftliche Entwicklungsdenken begründet und dabei zugleich die Reflexion des widersprüchlichen Charakters von Entwicklungen mit einer Intensität in den Mittelpunkt gestellt, die bis dato nur von Marx bekannt war. Verbundenen mit der Thematisierung von Innovation, Pionierunternehmern und der vermeintlich schöpferischen Zerstörung wird Schumpeter zwar oft reflektiert, Biografie und Werk sind aber noch lange nicht hinreichend erforscht.
Ich bin nicht sicher, ob das der Grund dafür ist, dass man in jüngster Zeit hier und da einem Schumpeter-Bashing begegnet, aus dem m. E. nicht nur die Lust an Verballhornung und Dekonstruktion, sondern auch ein gedankenloser Umgang mit Biografien spricht. Da das Schumpeter-Archiv sich in besonderem Maße um die biografische Forschung bemüht, will ich meine Bedenken nachstehend erläutern.
Von den maßgeblichen Sozialwissenschaftlern des 20. Jahrhunderts war Schumpeter einer der wenigen, der (mit seiner Schrift zur Soziologie der Imperialismen) eine sozialwissenschaftliche Diagnose des 1. Weltkrieges vorgelegt hat. Da er mitten im Kriege gleichzeitig für eine föderale Reform der Monarchie und einen sofortigen Friedensschluss stritt und sich gegen den damals grassierenden Völkerhass wandte, ist es durchaus angebracht, der Grazer Universität, an der Schumpeter in jenen Jahren lehrte, die Stiftung eines Schumpeter-Friedenspreises nahezulegen.
Schumpeter zog sich mit diesem Engagement auch die Feindschaft nationalistisch gesinnter Kollegen zu. So die des kriegsbegeisterten Werner Sombart (Weltkriegsschrift 1915: Händler und Helden), der selbst noch im Jahre 1932 im Verein mit Gesinnungsfreunden aus der Ludendorff-Zeit die von Adolf Grimme intendierte Berufung Schumpeters nach Berlin mit persönlichen Diffamierungen zu verhindern suchte. Was auch gelang. Denn Herr von Papen putschte damals genau in den für die Berufung kritischen Julitagen des Jahres 1932 die sozialdemokratische Regierung Preußens und damit auch den zuständigen Kultusminister Grimme aus Amt und Verantwortung. Im Ergebnis der Initiativen von Sombart und Sering wie des Papen-Putsches geriet Schumpeters Abschied aus Bonn schließlich nicht zu einer Reise nach Berlin, sondern zu einer nach Boston.
Ist Schumpeters Gang an die Harvard University mit bisher kaum Beachtetem verbunden, zeigen die Berichte über die ersten Stationen seines akademischen Lebensweges, dass Biografen nicht selten auf Holzwege geraten. So begegnet man der skurrilen Vermutung, Schumpeter habe sich - mitten im Weltkriege(!) - auch aus Kleinstadt-Langeweile friedenspolitisch engagiert. Einsichtsvollere sprechen nicht vom Pazifismus als Zeitvertreib, sondern machen Geltungsdrang und Aufstiegsstreben als Motiv namhaft. Auf diese Weise enthüllen sie uns das bisher gut gehütete Geheimnis, im Jahre 1916 seien Pazifismus und Wehrkritik für österreichische Staatsbedienstete besonders karriereförderlich gewesen.
Da stolpert man beim Recherchieren auch sehr bald über einen vermeintlichen Grazer Studentenstreik vom Herbst 1912. Während einige Biografen den Streik als ein pädagogisches Erweckungserlebnis feiern, stellt sich bei näherem Zusehen heraus, dass es sich um einen von wehrhaften Verbindungen deutschnationaler Studenten organisierten Aufstand gehandelt hat, mit dem es um ein möglichst anspruchsloses Studium und die Ehre eines nationalistischen Lehrers ging. Die zeitgenössische Grazer sozialdemokratische Presse beurteilte das vermeintliche Erweckungserlebnis adäquater und sprach von wissensfeindlichen Herren, von einer Büberei der Herren Coleurstudenten. Damals hatten die wehrhaften Verbindungen bei der Universitätsleitung übrigens durchgesetzt, dass allein sie im Namen der Studenten sprechen dürfen. Schlecht recherchierte Biografien geraten da leicht in Gefahr, auf kaiserzeitliche politische Intrigen hereinzufallen.
Man mag meinen, derartige Schnitzer passieren halt. Aber leider wird in diesem Zusammenhang biografisch gern übersehen, dass mit dem Höhepunkt des Gürtler-Eklats von 1916/1917 - einer ebenso hasserfüllten wie dumm-dreisten Attacke nationalistischen Zuschnitts - auch anschließend im akademischen Graz politische und wissenschaftliche Kämpfe ausgetragen wurden, in denen es immer wieder um die Stoßrichtung jener "Büberei" ging.
Grölten Studenten 1912 ihr "Heil Gürtler!" und "Schumpeter raus!", so forderte der Grazer Schumpeter-Kollege (und spätere Finanzminister der Republik) Alfred Gürtler 1916 öffentlich den Kampf gegen "Schädlinge im Inneren" und zielte damit vor allem auf den von ihm namhaft gemachten Schädling und Volksfeind Schumpeter. Kann es daher verwundern, wenn Schumpeter sich seit der vom Landeshauptmann Anton Rintelen 1919 im Handstreich durchgesetzten Vollberufung Gürtlers um einen Rückzug aus Graz bemüht hat?
Aber auch das, was wir über Schumpeter als Lehrer in einem gänzlich anderen sozialen Milieu erfahren, dem Czernowitz der Jahre 1909-1911, ist gelegentlich einfach zum Davonlaufen. Warum schauen Biografen nicht wenigstens in die damaligen Verzeichnisse der Vorlesungen?