So mancher Berichterstatter, kaum bedenkend, welchen Quellen er seine Behauptungen verdankt, setzt mit Blick auf diese Lebensstation zu Tiraden an, auf die im Jahre 1932 selbst diejenigen Zeitgenossen nicht verfallen sind, die Schumpeter übel gesinnt waren. So wird unser Protagonist z.B. als tendenziell gesinnungsloser Lebemann, Höfling und späterer Bankrotteur imaginiert, als ein Ego-Clown, der seit seiner Czernowitzer Zeit den Bürgerschreck gegeben habe. Und wer etwa voraussetzt, ein renommiertes fachwissenschaftliches Institut, wie die Wuppertaler Schumpeter-School, sei ihrem Helden die biografische Sorgfalt schuldig, sich mit Blick auf das Schicksal der Wiener Biedermann-Bank sachkundiger zu machen, als Schumpeter kommentarlos deren Bankrott anzuhängen, dem sei zur Belehrung das Bild zur Person empfohlen, das sie im Internet publiziert. Man begegnet hier einem Urteilsvermögen, das sich u.a. darin sonnt, den streitbaren Pazifisten als einen "selbsternannten Berater des Kaisers" zu veräppeln. Die Höflichkeit verbietet eigentlich hierzu jeden weiteren Kommentar. Kommt man aber dahinter, dass es sich hier gewissermaßen um eine akademische Tratschkolumne handelt, so mag sich der Ärger beruhigen. Würzt man doch einen deftigen Tratsch gern mit einem Schuss Verleumdung. So gesehen, haben wir eigentlich einen geglückten Beitrag vor uns und lediglich der Etikettenschwindel ist zu beklagen. Was tratscht man so? wäre eine angemessene Überschrift.

Im Unterschied zu derartigen Kapriolen, die als Mittel gegen Heiligenverehrung freilich ab und zu gut tun, führen biografische Forschungen im günstigen Fall zu bisher unbekannten Arbeiten und tragen zur umfassenden Erschließung des Werkes und seiner Geschichte bei. Ich will hier nicht die Ergebnisse referieren, die das Archiv diesbezüglich vorstellt, sondern darauf hinweisen, dass man beim Recherchieren bisweilen auch überrascht wird. So kann ich beispielsweise der feministischen Schumpeter-Kritik (Vgl. im Netz: Eva Kreisky, Demokratie, Markt und Geschlecht) mitteilen, dass Schumpeter 1913/1914 in Amerika für das damals umkämpfte Frauenwahlrecht und die beruflichen Perspektiven von Frauen geworben hat. Er hielt hierzu mehrere Vorträge und im März 1914 publizierten die Washington Post und die Denver Post seinen Aufsatz Suffrage is coming. Im Mai 1916 publizierte die Grazer Tagespost seine Philippika für das Frauenstudium und als Dekan der Rechtsfakultät brachte er einen entsprechenden Fakultätsbeschluss zum Erfolg.1] Lesen wir deshalb bei Eva Kreisky: „Die Idee der Frauenemanzipation erschien ihm als Greuel.“?
Mit Blick auf die für Schumpeters Denken maßgebliche Vorstellung vom Unternehmer als Initiator von Neuerungen ist im Verein mit biografischen Forschungen eine Begriffsgeschichte zu entdecken, die in das Spätwerk mündet. Sie führt über die Argumentation der früheren Schaffenszeit hinaus, die ihrerseits ganz auf die Energie der Handelnden abstellte, auf deren willensbestimmte Tatkraft.
Zu überdenken ist auch die Imperialismustheorie, die er ja bereits 1916 in Wien vorgestellt hat. Deren spätere Zurücknahme bzw. Problematisierung wurde bisher kaum beachtet. Den Imperialismus beurteilte Schumpeter bekanntlich als einen Atavismus. Seine Zeitdiagnose war in den Kriegsjahren mit der sicher nicht unzutreffenden Feststellung verbunden, das Bündnis des militaristischen Adel des Fürstenstaates mit einer exportmonopolistisch orientierten kapitalistischen Oberschicht „ […] bedroht Europa mit steter Kriegsgefahr.“ [2] Die spätere Korrektur verband er mit dem bemerkenswerten Eingeständnis, er könne das größte Problem der Wirtschaftssoziologie seiner Epoche nicht präzise beantworten. Er wisse nicht genau, welchen sozialen Kräften die epochenspezifischen Tendenzen seines Zeitalters zu verdanken sind, - die zu einem militanten Nationalismus (resp. Imperialismus) einerseits, wie die zur Reaktion auf die soziale Frage andererseits. Er vermag nicht zu sagen, heißt es nun, ob sie als unterschiedliche Ausdrücke ein und derselben grundlegenden Tendenz zu verstehen sind. „Das tiefste [deepest] Problem der Wirtschaftssoziologie unserer Epoche ist, ob diese Tendenzen […] im Grunde eine einzige sind und ob sie sich aus der Logik der kapitalistischen Entwicklung selbst ergeben oder Verzerrungen waren, die auf außerkapitalistische Einflüsse zurückzuführen sind.“ [3] Ähnlich dann in den Lowell Lectures (1941): Der mit dem Nationalismus und Militarismus seiner Epoche gesetzte Imperialismus ist ihm dann weder als eine genuin (inner)kapitalistische Erscheinung noch als Atavismus (also via Militarismus für sich) erklärbar, er sieht keine eindeutige soziale Kräftekonstellation, die die sich über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erstreckende (Kondratjew-) Epoche bestimmt. [4]
Meiner Ansicht nach hängt die späte deutlich amerikakritische Tendenz Schumpeters, die ja dann auch das FBI ausgiebig beschäftigt hat, mit der hier skizzierten Auflösung früherer Gewissheiten zusammen. Ob dies stimmt und ob es mit Blick auf wichtige Aspekte des Schumpeterschen politischen Denkens empfehlenswert wäre, gleichsam zwischen Schumpeter I und Schumpeter II zu unterscheiden, müssen weitere Forschungen zu Person und Werk zeigen.
Vielleicht wird in diesem Zusammenhang auch allgemein bekannt, dass wir mit der seit Jahrzehnten in den Seminaren intensiv benutzten deutschen Ausgabe von Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie nicht nur einen Torso, sondern erklärtermaßen auch eine Zensurleistung des Herausgebers Edgar Salin vor uns haben. Namens seiner Vorstellung von der Einmaligkeit der Geschichte lag ihm daran, die deutschen Leser vor Schumpeters "absonderliche[m] Verhältnis zu den geschichtlichen Fakten" zu schützen. [5] Zwar hatte Elisabeth Boody-Schumpeter bereits 1950(!) dem Herausgeber das weitere Erscheinen dieses Torsos schriftlich untersagt und Salin hat ihr daraufhin versichert, sich daran zu halten. Aber bekanntlich haben sich weder Herausgeber noch Verlag je um Schumpeters Verbot resp. die Zusicherung Salins geschert.

Ob es sich nun um die Erschließung der politischen Memoranden 1916-1918, um bisher unbekannte Vorträge resp. Aufsätze aus den Jahren 1910-1932 oder entlegene Schumpeteriana handelt – das Archiv zielt auf den Gesamtbestand des Werkes. Für eine Übersicht empfehle ich die aktuelle Forschungs-bibliografie, die auch Online-Zugänge erfasst. Allein schon wegen der hier und da beklagenswerten Fragilität von Online-Publikationen bin ich für jeden Hinweis auf Problemstellen, Fehler und Lücken der Bibliografie sehr dankbar. Aber post@schumpeter.info ist ebenso für Bemerkungen und Anfragen an mich gut.

Berlin, im Juli 2017

Ulrich Hedtke

 

 

 

Über Schumpeter-Forschung und über Schumpeter-Tratsch

Nun versichert uns Michael Jäger in „Wanderers Verstummen ...“ überdies, dass sich Johann Wolfgang selbst in der Hütte von Philemon und Baucis sah, die er Faustens Entwicklungshelfer in der vom Türmer beklagten Szene niederbrennen ließ. Was Innovationen betrifft, geht es wenigstens in Europa dermaßen furios nicht zu. Zudem tut der Betrachter gut daran, die Szene nicht mit einer Analyse zu verwechseln. Hätte man es dabei doch auch mit all der Not zu tun, die erst Faustens Landgewinnung wendet. Ob nun „der Weisheit letzter Schluss“ oder nicht – Goethe hat uns in seinem Spätwerk mit der epochalen  Frage konfrontiert: Wie halten wir es mit der Entwicklung?

Denn seit Schumpeter wissen wir ausdrücklich: Nicht Wachstum, sondern Entwicklung ist der Schlüsselvorgang der Moderne und sie ist zumeist ein durchaus widersprüchliches Geschehen: Entwicklungen eröffnen und verschließen Horizonte. Aus unterschiedlichsten Perspektiven erfahren wir: Entwicklungen führen zu neuen Chancen wie Berufen, vermögen jedoch auch Menschengruppen, Landstriche oder gar Länder zu deklassieren. Wirtschaftlich wie politisch ziehen sie im Wechsel von Konjunktur und Krise ihre Bahn. Es sind daher nicht so sehr traditionelle Klassenlagen, sondern es sind die sozialen und ökologischen Entwicklungswidersprüche, die unsere Problemlagen bestimmen und deren Beherrschung uns herausfordert. Jüngere soziale Bewegungen, die sich in überraschenden Volksentscheiden und Wahlsiegen geltend machen, sprechen diesbezüglich Bände.

Mit seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung  und seinen Forschungen zu den Krisen, der politischen Dynamik und der Stabilität sozialer Formationen hat Josef Alois Schumpeter das jüngere sozialwissenschaftliche Entwicklungsdenken begründet und dabei zugleich die Reflexion des widersprüchlichen Charakters von Entwicklungen mit einer Intensität in den Mittelpunkt gestellt, die bis dato nur von Marx bekannt war. Verbundenen mit der Thematisierung von Innovation, Pionierunternehmern und der vermeintlich schöpferischen Zerstörung wird Schumpeter zwar oft reflektiert, Biografie und Werk sind aber noch lange nicht hinreichend erforscht.
Ich bin nicht sicher, ob das der Grund dafür ist, dass man in jüngster Zeit hier und da einem Schumpeter-Bashing begegnet, aus dem m. E. nicht nur die Lust an Verballhornung und Dekonstruktion, sondern auch ein gedankenloser Umgang mit Biografien spricht. Da das Schumpeter-Archiv sich in besonderem Maße um die biografische Forschung bemüht, will ich meine Bedenken nachstehend erläutern.
Von den maßgeblichen Sozialwissenschaftlern des 20. Jahrhunderts war Schumpeter einer der wenigen, der (mit seiner Schrift zur Soziologie der Imperialismen) eine sozialwissenschaftliche Diagnose des 1. Weltkrieges vorgelegt hat. Da er mitten im Kriege gleichzeitig für eine föderale Reform der Monarchie und einen sofortigen Friedensschluss stritt und sich gegen den damals grassierenden Völkerhass wandte, ist es durchaus angebracht, der Grazer Universität, an der Schumpeter in jenen Jahren lehrte, die Stiftung eines Schumpeter-Friedenspreises nahezulegen.
Schumpeter zog sich mit diesem Engagement auch die Feindschaft nationalistisch gesinnter Kollegen zu. So die des kriegsbegeisterten Werner Sombart (Weltkriegsschrift 1915: Händler und Helden), der selbst noch im Jahre 1932 im Verein mit Gesinnungsfreunden aus der Ludendorff-Zeit die von Adolf Grimme intendierte Berufung Schumpeters nach Berlin mit persönlichen Diffamierungen zu verhindern suchte. Was auch gelang. Denn Herr von Papen putschte damals genau in den für die Berufung kritischen Julitagen des Jahres 1932 die sozialdemokratische Regierung Preußens und damit auch den zuständigen Kultusminister Grimme aus Amt und Verantwortung. Im Ergebnis der Initiativen von Sombart und Sering wie des Papen-Putsches geriet Schumpeters Abschied aus Bonn schließlich nicht zu einer Reise nach Berlin, sondern zu einer nach Boston.
Ist Schumpeters Gang an die Harvard University mit bisher kaum Beachtetem verbunden, zeigen die Berichte über die ersten Stationen seines akademischen Lebensweges, dass Biografen nicht selten auf Holzwege geraten. So begegnet man der skurrilen Vermutung, Schumpeter habe sich - mitten im Weltkriege(!) - auch aus Kleinstadt-Langeweile friedenspolitisch engagiert. Einsichtsvollere sprechen nicht vom Pazifismus als Zeitvertreib, sondern machen Geltungsdrang und Aufstiegsstreben als Motiv namhaft. Auf diese Weise enthüllen sie uns das bisher gut gehütete Geheimnis, im Jahre 1916 seien Pazifismus und Wehrkritik für österreichische Staatsbedienstete besonders karriereförderlich gewesen.
Da stolpert man beim Recherchieren auch sehr bald über einen vermeintlichen Grazer Studentenstreik vom Herbst 1912. Während einige Biografen den Streik als ein pädagogisches Erweckungserlebnis feiern, stellt sich bei näherem Zusehen heraus, dass es sich um einen von wehrhaften Verbindungen deutschnationaler Studenten organisierten Aufstand gehandelt hat, mit dem es um ein möglichst anspruchsloses Studium und die Ehre eines nationalistischen Lehrers ging. Die zeitgenössische Grazer sozialdemokratische Presse beurteilte das vermeintliche Erweckungserlebnis adäquater und sprach von wissensfeindlichen Herren, von einer Büberei der Herren Coleurstudenten. Damals hatten die wehrhaften Verbindungen bei der Universitätsleitung übrigens durchgesetzt, dass allein sie im Namen der Studenten sprechen dürfen. Schlecht recherchierte Biografien geraten da leicht in Gefahr, auf kaiserzeitliche politische Intrigen hereinzufallen.
Man mag meinen, derartige Schnitzer passieren halt. Aber leider wird in diesem Zusammenhang biografisch gern übersehen, dass mit dem Höhepunkt des Gürtler-Eklats von 1916/1917 - einer ebenso hasserfüllten wie dumm-dreisten Attacke nationalistischen Zuschnitts - auch anschließend im akademischen Graz politische und wissenschaftliche Kämpfe ausgetragen wurden, in denen es immer wieder um die Stoßrichtung jener "Büberei" ging. Grölten Studenten 1912 ihr "Heil Gürtler!" und "Schumpeter raus!", so forderte der Grazer Schumpeter-Kollege (und spätere Finanzminister der Republik) Alfred Gürtler 1916 öffentlich den Kampf gegen "Schädlinge im Inneren" und zielte damit vor allem auf den von ihm namhaft gemachten Schädling und Volksfeind Schumpeter. Kann es daher verwundern, wenn Schumpeter sich seit der vom Landeshauptmann Anton Rintelen 1919 im Handstreich durchgesetzten Vollberufung Gürtlers um einen Rückzug aus Graz bemüht hat?
Aber auch das, was wir über Schumpeter als Lehrer in einem gänzlich anderen sozialen Milieu erfahren, dem Czernowitz der Jahre 1909-1911, ist gelegentlich einfach zum Davonlaufen. Warum schauen Biografen nicht wenigstens in die damaligen Verzeichnisse der Vorlesungen?