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Joseph Alois Schumpeter
Das "volkswirtschaftliche" Einkommen aus der Landwirtschaft
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Notiz des Herausgebers
Zu den ganz wenigen und bisher auch unbekannt gebliebenen Zeugnissen einer wissenschaftlichen Tätigkeit Schumpeters in den frühen zwanziger Jahren gehört nachfolgende Diskussionsbemerkung zur Wechselbeziehung zwischen privatwirtschaftlichem und volkswirtschaftlichen Einkommen unter besonderer Berücksichtigung der Landwirtschaft. Zu diesem Thema und unter diesem Titel hatte E. Laur am 17. Oktober 1924 in der Jahresversammlung der Schweizer Statistischen Gesellschaft in Baden ein Referat erstattet, das lebhaft diskutiert worden ist. Auf der Jahresversammlung der Gesellschaft wurde dann auch das Interesse geäußert, die Debatte in der Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft fortzuführen. Deren Heft 1 des 61. Jahrganges (1925) enthält die Beiträge von Ammon, Liefmann, Oswalt, Schumpeter und das Schlusswort von Laur.
Ich veröffentliche den Text nach dem Wortlaut in dieser Zeitschrift.
Joseph Alois Schumpeter
Das "volkswirtschaftliche Einkommen" aus der Landwirtschaft
Der freundlichen Einladung zur Teilnahme an der Diskussion über den Vortrag von Herrn Professor Laur folge ich mit jener Selbstbescheidung, die sich der Ausländer gegenüber den Ausführungen einer so kompetenten Autorität aufzuerlegen hat. Deshalb will ich lediglich das allgemeine theoretische Problem behandeln, das dem speziell schweizerischen Verhältnissen gewidmeten Gedankengang des interessanten Vortrages zugrunde liegt. Dabei will ich mich noch weiter auf wirtschaftspolitisch verursachte Zu- oder Abnahmen des "volkswirtschaftlichen Einkommens" (ich gebrauche diesen Ausdruck im Sinne des Vortragenden) aus der Landwirtschaft beschränken und, pour fixer les idées, an die Wirkungen der Einführung oder Auflassung von Schutzzöllen denken, als an ein Beispiel für jene Maßregeln, durch welche der Staat die Rentabilität eines Produktionszweiges in dem Sinne zu beeinflussen versuchen kann, "dass die Unternehmer veranlasst werden, ihre Betriebe im Sinne der Erzielung eines möglichst hohen volkswirtschaftlichen Einkommens zu organisieren" (Vortrag S. 278).
1. In jeder gegebenen Situation einer Volkswirtschaft wirkt jede Steigerung der Preise eines Produktes anregend auf den betreffenden Produktionszweig. Die Betriebsintensität desselben nimmt zu, gleichgültig wodurch dieses Steigen verursacht wurde, und sogar dann, wenn es lediglich nominell - zum Beispiel in einer gleichmäßigen Inflation begründet - ist, es sei denn, dass dieser letztere Sachverhalt von allen Beteiligten sofort erkannt würde. Das gilt bis zu jener Grenze, an welcher Weitererwerb gegenüber dem schon erreichten Stand der Bedürfnisbefriedigung für die betreffenden Wirtschaftssubjekte unrationell wird. Diese Grenze liegt selbst für den einzelnen Produzenten in der Regel ziemlich fern, für einen ganzen Produktionszweig vollends meist jenseits aller praktischen Möglichkeit. Davon zu unterscheiden ist natürlich die auf die Dauer einschläfernde Wirkung eines durch hohe Preise gesicherten Lebensstandards und Inlandsmarktes. Beides - die Wirkung einer Preissteigerung in einer gegebenen Situation und die Dauerwirkung gesicherten Wohlstandes auf die Mentalität der Wirtschaftssubjekte - gilt sowohl für Industrie wie für Landwirtschaft, aber beides in sehr verschiedenem Maße, je nach Struktur und Anlage der Bevölkerung. Einen so scharfen prinzipiellen Unterschied zwischen Landwirtschaft und Industrie wie Herr Professor Laur würde ich in dieser Beziehung nicht machen. Hingegen stimme ich ihm darin zu, dass der modernen Industrie die Anpassung an fallende Preise leichter fällt als der Landwirtschaft und dass eine der Formen der Anpassung der letztern an ungenügende Preise der Übergang zu extensiver Wirtschaft ist.
2. Das "volkswirtschaftliche Einkommen" aus der Landwirtschaft steigt infolge einer Preissteigerung schon an sich. Darüber hinaus steigt es - ebenfalls auf alle Fälle - durch die im Gefolge der Preissteigerung eintretende Betriebsintensivierung und Naturalertragszunahme. Während dabei aber die Grundrente eben (und jede Art von Rente; auch das gilt prinzipiell für Industrie wie für Landwirtschaft, wenngleich es bei letzterer eine größere Bedeutung hat) in bezug auf dasselbe gegebene Bodenausmaß steigt (was die Erhöhung der Bodenpreise nach sich zieht: mir scheint das der wesentliche Kausalzusammenhang zu sein, gegenüber dem der von Herrn Prof. Laur betonte, dass hohe Bodenpreise ihrerseits ein Ansporn zur Intensivierung der Betriebstechnik sind, nur sekundäre, sozusagen reflektorische Bedeutung hat), so steigen die Kapital- und Arbeitseinkommen aus der Landwirtschaft infolge der Intensivierung zunächst nur, weil und insoweit jetzt mehr Kapital und Arbeit aufgewendet wird. Infolge des Gesetzes vom abnehmenden Produktionsertrag (das bei wesentlich gleichbleibender Produktionsmethode sowohl für Industrie wie für Landwirtschaft, beim Übergang zu neuen Produktionsmethoden aber für keine von beiden gilt und das keineswegs bloß auf einer technischen Tatsache, sondern auch auf der rein wirtschaftlichen Tatsache beruht, dass bei fortschreitender Intensivierung eines Betriebszweiges die dazu nötigen Produktionsmittel fortschreitend immer wichtigeren andern Verwendungen entzogen werden müssen) kommen wir immer zu einem Punkt, von welchem ab jeder weitere Zusatz von Kapital und Arbeit immer geringere Zuwächse an Ertrag erzielt als sein Vorgänger; immer langsamer steigt der Gesamtnaturalertrag, noch langsamer der Gesamtgeldertrag, dem sowohl ein Preisrückschlag infolge vermehrten Angebotes an Produkten, als auch eine Preissteigerung der Produktionsmittel infolge vermehrter Nachfrage droht, und immer schärfer nimmt der Geldertrag pro Geldwert der aufgewendeten Kapital- und Arbeitsmengeneinheit ab. Doch ist es gewiss richtig, dass dieser Punkt nicht so nahe liegt, wie oft angenommen wird, zumal ihn der technische Fortschritt immer weiter hinausschiebt. Besonders dort, wo große, nicht mehr rückgängig zu machende Investitionen einmal vorhanden sind, haben zusätzliche Aufwendungen von Kapital und Arbeit innerhalb weiter Grenzen überproportionale Zuwächse an Naturalertrag und meist auch Geldertrag zur Folge. Ich werde es nicht wagen, nach einem Kenner vom Range des Herrn Professor Laur ein Urteil über Schweizer Verhältnisse abzugeben, aber für die österreichische Landwirtschaft liegt dieser Fall momentan sicher vor.
3. Dass dort, wo eine wirtschaftspolitisch verursachte Preissteigerung eine erhöhte Betriebsintensität und mit ihr einen erhöhten Naturalertrag und ein erhöhtes volkswirtschaftliches Einkommen aus dem betreffenden Produktionszweig hervorruft, obgleich derselbe dem Gesetz vom abnehmenden Ertrag folgt, eine unwirtschaftliche Verwendung nationaler Produktivkräfte vorliegen kann, welche nur künstlich durch die Preissteigerung privatwirtschaftlich rentabel gemacht wird, ist klar: Es kann da das Steigen des volkswirtschaftlichen Einkommens unter Umständen geradezu Symptom und Maß einer Schädigung der Volkswirtschaft sein. Selbst wenn zusätzliche Aufwendungen von Kapital und Arbeit überproportionale Resultate liefern, also die Produktion einem Gesetz vom zunehmenden Produktionsertrag folgt, gibt die damit verbundene Steigerung des volkswirtschaftlichen Einkommens an sich noch keinen "Maßstab für die Beurteilung der volkswirtschaftlichen Bedeutung eines Betriebes" (S. 278). Denn wenn die hinzutretenden Kapital- und Arbeitsmengen nur durch einen wirtschaftspolitischen Eingriff z. B. in die Landwirtschaft gelenkt wurden und vorher nicht dahin gravitierten, so besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sie in andern Verwendungen noch produktiver wirken würden. War z. B. vor dem Eingriff die Intensivierung deshalb unmöglich, weil sie den herrschenden Zinssatz nicht vertrug - was beweist das anderes, als dass das nationale Kapital eben lohnendere und das heißt in der Regel auch volkswirtschaftlich produktivere Verwendungen hatte ? Gewiss können unter Umständen diese andern Verwendungen volkswirtschaftliche und sozialpolitische Nachteile haben. Ein solcher Fall läge z. B. bei einer unter unhygienischen Verhältnissen oder zu Hungerlöhnen arbeitenden Industrie vor. Aber selbst da wäre immer zunächst noch die Frage zu beantworten, wieso es komme, dass, wenn gut rentierende Industrien nur Hungerlöhne zahlen können, die ex hypothesi ungünstiger arbeitende Landwirtschaft bessere Bedingungen zu bieten habe. Die Arbeitsintensivierung bedeutet überhaupt nicht immer einen Fortschritt, nicht einmal vom Standpunkt des betreffenden Betriebszweiges und vollends nicht von dem der Volkswirtschaft. Im Gegenteil, es kann Arbeitsextensivierung häufig einen Fortschritt darstellen.
Der Begriff des volkswirtschaftlichen Einkommens eines Produktionszweiges hat eben weder Raum für Konsumenteninteressen, noch für die Produktionsinteressen der andern Produktionszweige, noch endlich für die Gestaltung der Rentabilität pro Einheit der in dem betreffenden Produktionszweige selbst verwendeten Produktionsmittel. Deshalb kann es überhaupt kein volkswirtschaftspolitisches Ideal sein, das volkswirtschaftliche Einkommen eines Produktionszweiges auf ein Maximum heben zu wollen. Und nur mit großer Vorsicht kann ein Steigen dieser Größe - in der Regel nur dann, aber auch dann nicht immer, wenn es aus "natürlichen Ursachen" erfolgt - als Symptom und Maß fruchtbarer, die Wohlfahrt eines Volkes erhöhender Entwicklung desselben betrachtet werden. Auch die relative Bewegung des volkswirtschaftlichen Einkommens eines Produktionszweiges gegenüber den gleichgearteten Größen der andern Produktionszweige gibt kein verlässliches Maß, denn die Verschiebungen können ganz verschiedene Dinge bedeuten. Endlich ist uns auch mit dem Verhältnis des volkswirtschaftlichen Einkommens eines Produktionszweiges zum gesamten Volkseinkommen, also der Summe aller Einzeleinkommen, wenig gedient. Denn das gesamte Volkseinkommen ist eine Größe, die unmittelbar nur auf Ursachen reagiert, die in der Sphäre des Geld- und Kreditwesens liegen. Jede Inflation vermehrt sie, jede Deflation vermindert sie, während die Vorgänge der Güterwelt sie, unmittelbar wenigstens, unberührt lassen und nur auf die Kaufkraft der Einheiten wirken, in denen die Einkommen ausgedrückt werden. Nehmen wir an, es würde ein landwirtschaftlicher Zoll eingeführt und dieser Zoll habe nur die Wirkung, die Preise der landwirtschaftlichen Produkte zu erhöhen, ohne dass sich sonst irgend etwas ändert, insbesondere auch ohne dass mehr produziert wird. Dann würde das volkswirtschaftliche Einkommen der Landwirtschaft steigen und, wenn infolgedessen mehr Kredite kreiert würden, was ja kaufmännisch vollkommen in der Ordnung wäre, auch das Volkseinkommen. Gleichwohl wären alle Klassen dieses Volkes, mit Ausnahme der Landwirte, schlechter, aber nicht besser daran als vorher. Die Bewegung des gesamten Naturaleinkommens eines Volkes aber ist in einem einzigen Ausdruck nicht zu erfassen, vollends nicht, wenn Vermehrungen in einzelnen Artikeln Verminderungen in andern gegenüberstehen.
Solange die Technik der Charakterisierung volkswirtschaftlicher Gesamtwirkungen durch einzelne Zahlenausdrücke noch so sehr in den Kinderschuhen steckt, sind wir bei der Beurteilung der volkswirtschaftlichen Wirkung einzelner Maßregeln oder Vorgänge auf die Abwägung der wichtigsten davon berührten Interessen angewiesen, die ja in sehr vielen Fällen zu exakten Resultaten führt. In unserem Fall kann man sagen, dass die Präsumption gegen volkswirtschaftspolitische Maßregeln spricht, die die Intensivierung eines Produktionszweiges erzwingen sollen, und dass es von dieser Regel - abgesehen von nationalpolitischen Erwägungen - hauptsächlich zwei Ausnahmen gibt:
Erstens den Fall eines temporären Notstandes, bei welchem der wirtschaftspolitische Eingriff verhindern soll, dass geschehene Kapitalsinvestitionen entwertet und vorhandene Betriebsformen gestört werden, obgleich sie auf die Dauer rationell wären,
zweitens den Fall, dass an sich weitere Kapitals- und Arbeitsinvestitionen in einen bestimmten Produktionszweig schon rein kaufmännisch rentabel wären und nach und nach auch von selbst erfolgen würden, so dass der volkswirtschaftliche Eingriff diesen Prozess nur beschleunigen, ihm gleichsam über einen toten Punkt hinweghelfen soll. Namentlich in Produktionszweigen, die große, dauernde Zukunftsmöglichkeiten eröffnen, an die sich die Geschäftswelt aber nur zögernd heranwagt, kann dieser Gesichtspunkt sehr wichtig sein.* * * * *
Quelle: Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, 61. Jahrgang (1925) Heft 1, S. 16-19
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